Zur Verfassungswidrigkeit der StVO-Novelle vom 28. April 2020

Mit der vierundfünfzigsten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 (BGBl. I S. 814), in Kraft getreten am 28.04.2020, wurden eine Reihe von Vorschriften der Straßenverkehrsordnung (StVO), der Fahrerlaubnisverordnung (FeV), der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr (GebOSt) und der Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) geändert.

 

Im Herbst 2019 wurde der Entwurf einer „Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im Bundesrat vorgelegt. Die angestrebten Ziele der Gesetzesänderungen waren vor allem mehr Sicherheit und Klimafreundlichkeit im Straßenverkehr. Bezweckt werden sollte dies unter anderem durch höhere Bußgelder für Halte- und Parkverstöße, Sanktionen für das Nichtbilden und die unerlaubte Nutzung von Rettungsgassen sowie das Verbot der Abschaltung von Notbremsassistenten.

 

Medienwirksam wurden vor allem die Änderungen des Bußgeldkataloges aufgenommen. Hierbei wurden mit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderungen am 28.04.2020 z.B. die Bußgelder für Geschwindigkeitsüberschreitungen erhöht. Nach der bisherigen Gesetzeslage wurde beispielshalber eine Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts ab einer Geschwindigkeit von 31 km/h zu schnell mit einem Monat Fahrverbot sanktioniert (Vgl. Nr. 11.1.4 BKat iVm § 4 Abs. 1 BKatV). Nach Inkrafttreten der neuen Vorschriften ist nun bereits ab einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 21 km/h innerorts und von 26 km/h außerorts ein Fahrverbot von einem Monat die Konsequenz. Diese und noch weitere Verschärfungen riefen bei vielen Bürgern eine große Verunsicherung hervor, so dass sich die Novelle großer Kritik ausgesetzt sah. Kritisiert wurde z.B. die Tatsache, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von bis zu 20 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften lediglich ein Verwarnungsgeld ohne Punkte im Fahreignungsregister verhängt wird, ab 21 km/h aber neben der Eintragung eines Punktes auch schon die Verhängung eines Fahrverbots von einem Monat die Folge ist. Aufgrund solcher „Sprünge“ im Sanktionensystem sahen sich die Änderungen daher dem Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit ausgesetzt.

 

Die Kritik an den Gesetzesänderungen ist zwar sicher berechtigt, erscheint im Ergebnis jedoch zumindest nach der aktuellen Gesetzeslage unnötig. Denn die gesamte Novelle dürfte ohnehin nichtig sein, nachdem ein Verstoß gegen das Zitiergebot gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG vorliegt. Nach dieser Verfassungsnorm müssen bei einer Verordnung sämtliche Ermächtigungsgrundlagen ausdrücklich genannt werden, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben einzuhalten.

 

Dies ist allerdings bei der in Rede stehenden Novelle nicht der Fall: Es werden zwar § 26a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG zitiert. Jedoch fehlt in der Verordnung die Nennung von § 26 Abs. 1 Nr. 3 StVG iVm § 25 StVG. Um die Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG zu erfüllen, müssen jedoch sämtliche Vorschriften, die der neuen Verordnung als Ermächtigungsgrundlagen dienen, in dieser auch explizit genannt werden. Nachdem dies aber vorliegend nicht beachtet wurde, dürfte die unterlassene Zitierung von § 26 Abs. 1 Nr. 3 StVG iVm § 25 StVG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Nichtigkeit der gesamten Verordnung zur Folge haben (Vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juni 1999 – 2 BvF 3/90).

 

Aufgrund des verfassungsrechtlichen Ranges des Zitiergebotes ist der Verstoß im Ergebnis so schwerwiegend, dass nicht nur die Nichtigkeit der Anordnung von Fahrverboten, sondern sogar der gesamten Verordnung die Folge sein dürfte. Das Sanktionensystem des deutschen Verkehrsordnungswidrigkeitenrechts zeichnet sich durch eine enge Verknüpfung von Geldbuße, Punkteeintrag im Fahreignungsregister sowie Fahrverbot aus. Ein Fahrverbot geht regelmäßig mit einer Sanktionierung durch Geldbuße und Punkte einher. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht sachgerecht, eine isolierte Nichtigkeit der Verordnung anzunehmen, wenn die Verhängung eines Fahrverbots die Rechtsfolge wäre. Vielmehr ist – wie bereits dargestellt – von einer kompletten Nichtigkeit der vierundfünfzigsten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 (BGBl. I S. 814), in Kraft getreten am 28.04.2020, auszugehen.

 

Nun stellt sich die Frage, was die Folge dieser Nichtigkeit ist. Schließt man sich der Ansicht an, die eine Nichtigkeit der gesamten Verordnung sieht, wäre eine Rechtswidrigkeit sämtlicher Bußgeldbescheide, die aufgrund von Verstößen im Geltungsbereich der neuen Verordnung ab 28.04.2020 ergangen sind, die Folge. Die zugrunde liegenden Ordnungswidrigkeitenverfahren wären gemäß § 47 Abs. 1 OWiG durch die Verwaltungsbehörde bzw. gemäß § 47 Abs. 2 OWiG durch das Gericht einzustellen. Teilt man hingegen die Auffassung, dass lediglich eine Teilnichtigkeit im Hinblick auf die Verhängung eines Fahrverbots als Rechtsfolge vorliegt, müsste man das Fahrverbot wegfallen lassen und im Übrigen den Bußgeldbescheid aufrechterhalten. Vorzugswürdig ist die erstgenannte Lösung, so dass das Bußgeldverfahren einzustellen ist. Nur so wird man der verfassungsrechtlichen Bedeutung von Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG gerecht. Der Verstoß gegen das Zitiergebot ist so schwerwiegend, dass sämtliche Vorschriften der Verordnung an rechtlicher Wirkungskraft verlieren (Vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juni 1999 – 2 BvF 3/90).

 

 

Die Folgen des genannten Zitierfehlers werden derzeit je nach Bundesland unterschiedlich gehandhabt: So hat Brandenburg bereits damit begonnen, gezahlte Bußgelder zurückzuzahlen. In Hessen sollen die betreffenden Verfahren von Amts wegen eingestellt werden. Die meisten anderen Bundesländer hingegen haben noch nicht darauf hingewirkt, auch in Fällen, die bereits rechtskräftig sind, tätig zu werden. Vom Umgang mit bereits rechtskräftigen Bußgeldbescheiden ist die Vollziehung der novellierten Vorschriften zu unterscheiden. So haben z.B. Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und das Saarland bereits begonnen, Fahrverbote nach den neuen Regelungen nicht zu vollziehen – es sei denn, nach alter Rechtslage wäre die Rechtsfolge dieselbe. Ein einheitliches Vorgehen ist derzeit noch nicht absehbar. Man darf daher gespannt sein, wie die einzelnen Länder mit dieser Situation langfristig umgehen werden und ob der Bund hier gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. GG eine entsprechende Verordnung erlassen wird. Letzteres wäre im Sinne einer zu schaffenden Rechtssicherheit zu begrüßen.